Expats lassen sich Vollkornbrot aus München einfliegen, für Ausflüge werden Pfister-Laibe in die Proviantkisten gepackt. Kaum eine Stadt hat eine so lange Brottradition wie München – und derart geschätzte Backwaren. Was macht sie so besonders und begehrenswert? Ein Blick in die Stuben und Öfen heimischer Traditionsbäckereien.
Sterzl, Rankerl und mehr als dreißig weitere Kosenamen geben die Bayern allein dem Endstück vom Brot, das sonst niemand haben mag. Einheimische nennen es liebevoll Scherz, Scherzl, Scherzerl. Kein Witz. Vernarrt sind sie in ihr Brot. Während alle Welt in Edelrestaurants an Molekularmenüs verhungert, sitzen die Einheimischen immer noch lieber auf der Bierbank und zelebrieren eine zünftige Brotzeit.
Das Brot dient aber nicht allein der Nahrungsaufnahme. Es ist charakterbildend. Alle kennen eine G'schicht'n, in der sie ein Brot reifer werden ließ: das ungeliebte Pausenbrot, das jahrelang im Schulmüll versank und später Reue lehrte. Das Allabendbrot im Kreis der Familie, das enge Bande knüpft. „Das Brot ist zentraler Bestandteil für Orte und Momente, in denen sich Menschen begegnen, um zu kommunizieren“, drückt es die UNESCO trocken aus und salbte die Deutsche Brotkultur 2014 zum immateriellen Kulturerbe. Ein Lebensmittel als Mittel zur Familien- und Völkerverständigung.
Während alle Welt in Edelrestaurants an Molekularmenüs verhungert, sitzt der Münchner immer noch lieber auf seiner Bierbank und zelebriert eine zünftige Brotzeit.
Die Deutsche Brotkultur hat in München tiefe Wurzeln. Viele ansässige Bäckereien gründen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die Hofpfisterei ist gar Jahrgang 1331. Aber auch ohne lange Ahnentafel halten die Münchner Bäckereien die alte Schule hoch – bilderbuchhaft wie jener Meister Bäcker aus „Max und Moritz“, den Wilhelm Busch vor 150 Jahren während seiner Münchner Zeit gemeinsam mit seinem engen Freund Erich, einem Müllersohn, zeichnete. Nur nicht so brutal. Was jetzt leidet, ist das Handwerk selbst: Seit Ende der Fünfzigerjahre bis heute blutete der Bäckereibestand in Deutschland von rund 50.000 auf unter 11.000 aus. Massenware zwang Manufakturen in die Knie.
Doch genau dann nämlich, 2010, als Schnellbackshops begannen, die Stadt mit ihren nach Luft und Leere schmeckenden Backwaren zu pflastern, eröffnete der letzte Müller Münchens seine eigene Bäckerei.
Stefan Blum übernahm die fünfstöckige Kunstmühle hinterm Hofbräuhaus 2001 von seinem Vater. „E. Knapp & R. Wenig“ heißt die Hausbäckerei im Erdgeschoss. Der Name würdigt Blums Urgroßmutter Elisabeth, geborene Knapp, und Vollkornpionier Rudolf Wenig, dessen 100-jährige Rezepte kantige Dinkelvollkorn- und runde Schwarzbrote formen. Mühlenkätzchen Ignaz schreit nach Essen. Ein bisschen muss sie darben, „sonst fängt sie keine Mäuse mehr“, sagt der Müller Blum.
Tradition zu wahren, bedeutet nun mal Arbeit und erfordert Prinzipien. „Es verschlingt Energie“, sagt der Bäcker Blum, der laut eigener Aussage auch ohne Wecker um vier Uhr früh aufwacht. Berufsgenosse Ludwig Neulinger schlief als Kind auf einem Liegestuhl in der Backstube seiner Eltern und lässt das Brot seiner Bäckerei Neulinger heute wie in dieser Kindheit schmecken, weil: Das, was er macht, will er auch selbst essen mögen, sagt er. Ein kategorischer Imperativ.
Die Maxime ihres bio-affinen Vaters führt Nicole Stocker in der Hofpfisterei fort, aber in deutlich größerem Umfang: Über vier Etagen verteilt wirft die Backstube, oder vielmehr der Backturm in der Münchner Maxvorstadt täglich Brote an 165 Filialen aus. Eine der ältesten Sorten ist das dunkle Bauernbrot, das zur Not das kriegsgebeutelte Volk satt machte.
Die Hofpfisterei war schon voll öko und bio und fair, als andere noch auf Hippies schimpften und den Herrgott für Ernteausfälle verfluchten.
Im Mittelpunkt der Produktion steht die patentierte Pfister-Sonne: runde Zwei-Kilo-Laibe aus 90 Prozent Roggen, zehn Prozent Weizen und gemahlenen Sonnenblumenkernen. Alle Zutaten aus ökologischer Landwirtschaft. Die Hofpfisterei war schon öko und bio und fair, als andere noch auf Hippies schimpften und den Herrgott für Ernteausfälle verfluchten.
Erst seit Zutaten angegeben werden müssen, ist das Angeben mit den Zutaten gang und gäbe. Also verwenden Münchens Bäckereien für ihr Brot nach wie vor, aber jetzt eben offensichtlich „Sorten aus der Region“, „unverfälschte Rohstoffe “ und von mehr als 300 EU-erlaubten Zusatzstoffen kaum mehr als einstellig viele.
Die hiesigen Bäckereien hüten einen Wissensschatz. Über 1200 Jahre war der Roggen in Deutschland die wichtigste Brotfrucht – man nannte ihn nur: „das Korn“. Das Roggenkorn verarbeitet sich nicht so leicht wie der Weizen. Wer es falsch angeht, muss in einen sehr kompakten Brotklumpen beißen. Im liebsten Reiseland im Süden heißt Brot Ciabatta und Focaccia: Brot ist eben nicht gleich Brot. Alles, was zwischen Feld und Ladentheke passiert, macht es aus. Wie lange war Korn A, B oder E in der Sonne? Wie fein wird es gemahlen? Wie oft wird es gesiebt?
Wer wissen will, was so ein Korn bis zum Brot durchmachen muss, erfährt es von einem Krümel in Wilhelm Buschs Gedicht „Das Brot“: „Ich sage dir, das sind Gefühle, wenn man zerrieben und gedrillt“, nachher „vermengt, geknetet und vernudelt“ wird. Das Bäckerlatein dekliniert sich durch Pore, Krume, Kruste. Brotbacken ist eine Wissenschaft. Eine Philosophie. Eine Kunst. Im besten Fall ist das Ergebnis ein Gedicht.
Als die Hofpfisterei 1964 von der feuchten, engen Altstadt ins trockene, luftige Wohngebiet zog, dauerte es ein halbes Jahr, bis der Sauer sich akklimatisiert hatte und seinen gewohnten Geschmack wieder hergab.
Dem ursprünglichen Brot liegt der Sauerteig, kurz Sauer, zugrunde. Er ist ein komplexes Wesen aus diversen Kleinstlebewesen. Vom reifen Sauer kann man zur Teigherstellung im Grunde bis in alle Ewigkeit kleine Mengen abzwacken, solange man ihn danach wieder mit frischem Mehl aufpäppelt. Doch wehe dem, der ihn vernachlässigt. Dann kippt die Stimmung im Wesen, die bösen Mikroben killen die guten, der Teig nimmt ein unaufhaltsam schlechtes Ende.
Ältere Semester kennen noch „Hermann“, der in den Siebziger- und Achtzigerjahren aus dem Nichts in deutschen Haushalten auftauchte – ein süßer Sauerteigansatz für allerlei Kuchen. Fast spirituell fanden Teigübergaben statt, um „Hermann“ bei längerer Absenz am Leben zu halten.
Manche vergleichen den Sauerteig mit einem Haustier, andere nennen ihn ihr Kind. Die Familienbäckerei Riedmair pflegt gleich drei davon für ihr Brot. Die Mischer der Hofpfisterei witzeln über ihre „kleine Diva“. Niemand vermarktet den Natursauerteig so groß wie die Hofpfisterei. Seine Starallüren kennen aber alle Münchner Bäckerinnen und Bäcker. Ein Blick auf die Diva im Gärbottich offenbart einen Tümpel, in dem Gase in Blasen an die Oberfläche treiben und zerplatzen.
Sauerteig ist sensibel. Und wetterfühlig und eigenwillig und anspruchsvoll. Ihn einzufrieren und wieder aufzutauen, zerstört seine Seele. Er mag es warm, dann wieder kühl, aber nicht zu warm und bloß keinen Zug. Der Münchner Föhn wühlt ihn regelrecht auf. Einen Umzug verzeiht er nur einmal: Als die Hofpfisterei 1964 von der feuchten, engen Altstadt ins trockene, luftige Wohngebiet zog, dauerte es ein halbes Jahr, bis der Sauer sich akklimatisiert hatte und seinen gewohnten Geschmack wieder hergab. Offenbar versöhnten ihn die Bierdämpfe vom benachbarten Löwenbräu. Die Hofpfisterei wird wohl für immer ein Münchner Stadtkind bleiben. Dem guten Geschmack zuliebe.
Kein Industrieteigling und keine noch so natürliche Backmischung kann jemals so schmecken und guttun wie ein indirekt langgezogenes Brot.
Einen Geschmack möglichst unverfälscht über Generationen hinweg zu konservieren, erscheint mystisch, metaphysisch, magisch, beinah unvorstellbar. Der Reifeprozess eines derart feinen Gespürs ist nicht minder langwierig wie der des Sauer. Jeden Tag geht der Bäcker auf Visite, schaut, wie es dem Teig geht, ob er überhaupt geht. Auch sonn- und feiertags wird er gefüttert und geherzt; je nach Wetter, Luftfeuchte und Temperatur mit mehr oder weniger, kaltem oder warmem Wasser gegossen. Jeden Tag gebärdet er sich anders. Jeder Laib wird ein Unikat.
Gutes Brot schmeckt nie gleich, aber immer gleich gut. Gutes Brot erkennt man aber nicht allein am Geschmack, sondern daran, wie es gemacht wird. Die Bäckerei Rischart formt seit 1883 jedes Brot von Hand. In der produktionsstarken Hofpfisterei imitiert ein sensibel erscheinender Bänderrundwirker einschlägige Handgriffe und Streicheleinheiten. Kein Industrieteigling und keine noch so natürliche Backmischung kann jemals so schmecken und guttun wie ein indirekt langgezogenes Brot. Ein bitte was? Indirekte Teigführung bedeutet, dass der Sauer stufenweise mit Mehl und Wasser angereichert, nicht alles wie früher beim Backen im Sandkasten auf einmal zusammengematscht wird.
Den Teig lange zu führen heißt, dass er genug Zeit bekommt, um zu quellen, zu ruhen, zu gären; um Hefen und Milchsäurebakterien zu bilden, sein typisches Aroma zu entfalten und sich locker zu machen; um die richtige Stärke auf- und schwer verdauliche Zucker abzubauen. Wir sprechen von Stunden, halben Tagen, Tagen. 24 Stunden und mehr führt die Hofpfisterei ihren Sauer an der Hand. Erst danach entstehen mittels Mehltypen, Gewürzen, Kernen, Saaten die Brotsorten, die uns wohl bekommen.
Zeit ist ein natürlicher Rohstoff, den sich so manche Bäckereien sparen. Wer ihn durch künstliche Hilfsmittel ersetzt, weiß zumindest, wo das miese Bauchgefühl und die Wegwerfgesellschaft herrühren. Mit Zeit genährtes Brot bleibt außerdem wesentlich länger feucht und haltbar. Man kann es guten Gewissens nach Übersee senden. Wissenschaftliche Expeditionen rüsteten sich mit Hofpfister-Laiben aus – extra verpackt in die hauseigene Frischhalteseide.
„Gutes Brot lagert man nicht, das isst man.“
„Gutes Brot lagert man nicht, das isst man“, ist wiederum Stefan Blums Ansage. Gemeint ist natürlich sein eigenes Brot aus der Kunstmühle: mit „griffigem“ Mehl gespeistes, in Körbchen aus Stroh statt aus Holzpappe oder Kunststoff gegärtes, sagenhaft mineralstoffhaltiges, aromatisch-krustiges Brot.
Selbstverständlich ist jede Bäckerei davon überzeugt, das beste Brot mit der reschesten Kruste und der würzigsten Krume und dem einwandfreisten Führungszeugnis zu kneten. Nicht alle sind so selbstbewusst wie die Brotmanufaktur Schmidt, die online ihre Domäne unter bestesbrot.de absteckt und ein Brot namens „Sexy Alive“ mit Amaranth und Chiasamen erschaffen hat – „Das Brot, das Ihnen mehr Sexappeal verleihen kann!“
Ludwig Neulinger feuert sein Signature-Weizenmischbrot, das „Genetzte“, im selbst gemauerten Backofen mit Fichtenholz an. Die Pfister-Sonne geht etwa zwei Stunden bei 200 Grad im altdeutschen Steinofen auf. Never change a winning Backmethode.
Der Wettbewerb der Münchner Traditionsbäckereien ist indes kein erbitterter Wettstreit. Die grassierende Panik vor Weizenwampen und Gluten schweißt zusammen. Blum liefert sein Mehl an Neulinger. Neulinger half ihm, seine Backstube einzurichten. Ob nun in Seide gehüllt, an veredeltem Wasser gelabt oder auf Stroh gebettet – das Backhandwerk bleibt München hochachtungsvoll erhalten.
Auch eine nächste Generation verweigert Backautomaten: „Das Handwerk ist tot. Es lebe das Handwerk“ lautet das Motto der Lokalbäckerei Brotzeit, deren Gründer Caps und Tattoos tragen, und rustikale „Braumeister“ mit Schwarzbier neben saft- und kraftvolle „Athleten“ mit Hanfsamen ins Regal legen. „Und gib den andern auch was ab“, beendet Wilhelm Buschs Brotkrume ihre Verse. Geteilt schmeckt gutes Brot sogar noch besser.
Hofpfisterei, Kreittmayrstraße 5
Knapp & Wenig, Neuturmstraße 3
Neulinger, Gotzinger Straße 48
Brotmanufaktur Schmidt, Steinstraße 27
Lokalbäckerei Brotzeit, Marktplatz 1, 82031 Grünwald